Der Titel unseres Seminars lautete #DU – Zeitgemäßer Deutschunterricht. Unsere Diskussionen drehten sich sehr häufig um den großen und spannenden Themenkomplex Digitalisierung/Digitalität, der sich schließlich auch in dem Namen unseres Blogs widerspiegelt. Allerdings stellt dieses Thema für mich nur einen von vielen Bausteinein dar, wenn es um die Frage nach zeitgemäßem (Deutsch-)Unterricht geht. Daher möchte ich in meinem Beitrag drei weitere Bausteine vorstellen, die unterschiedliche Perspektiven auf diese Fragestellung bieten.

Meine zentrale These lautet: Zeitgemäßer Unterricht wird der Vielfalt der Welt gerecht. Mir geht es also um Diversität in vielerlei Hinsicht und um einen Unterricht, der diese Heterogenität als Chance und nicht als Hindernis begreift.

Diversität moderner Lebensrealitäten
Zeitgemäßer Unterricht ist ein Unterricht mit heterogener Zielgruppe (= Schüler*innenschaft). Jedes Mitglied der Schulgemeinde soll sich in diesem Unterricht wiederfinden können – ohne Ausgrenzungserfahrungen. Dafür müssen wir beispielsweise unsere schulischen Medien kritisch unter die Lupe nehmen: Klassische Schulbücher arbeiten – insbesondere im Sprachenunterricht – oft mit Identifikationsfiguren. Das sind meist Kinder oder Familien, die im Schulbuch einen Namen bekommen und in den Geschichten und Übungen immer wieder auftauchen. Häufig sind die Kinder teil einer klassischen, weißen, christlichen Kernfamilie. Alternative Familienformen kommen selten und meist nur bei Nebencharakteren vor. Wir müssen kritisch reflektieren, welche Schüler*innen das Privileg besitzen, sich ständig in ihrem Schulbuch repräsentiert zu sehen, und welche Gruppen dabei systematisch außenvorgelassen werden. Für die Auswahl von Lektüre kann die Frage nach Repräsentation ebenfalls aufgeworfen werden, sowohl in Bezug auf die Autor*innenschaft (Der Vergleich von Schullektüren mit weißem männlichen Autor vs. alle anderen Gruppen dürfte ein ernüchterndes Ergebnis liefern) als auch auf die Charaktere. Repräsentation und Diversität dienen jedoch keinem Selbstzweck, sondern man muss stets mit einem aufrichtigen Interesse an Geschichten aus und mit anderen Perspektiven herangehen.
Außerdem muss Reflexion über Vorurteile, soziale Ungleichheit und Diskriminierung auf allen Ebenen der Schulgemeinschaft stattfinden. Unter dem Hashtag #SchuleohneRassismusSchulemitCourage berichteten im Juni 2020 Menschen mit Migrationshintergrund über ihre eigenen Erfahrungen mit Rassismus im schulischen Kontext. Die Selektionsmechanismen des Schul- und Universitätswesens sorgen dafür, dass bestimmte soziale Gruppen in der Lehrer*innenschaft über- und andere unterrepräsentiert sind. Umso wichtiger ist es daher, dass Lehrkräfte sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst werden und aktiv dagegen arbeiten.
Schließlich muss ein zeitgemäßer Unterricht aktuelle Diskurse aufgreifen und sich an der Lebensrealität der Schüler*innen orientieren. Sachtexte sollten Themen behandeln, die die Schüler*innen bewegen. Bei Erörterungen sollten sie für Positionen argumentieren können, die sie auch tatsächlich in ihrem Leben vertreten. Statt dem millionsten Aufsatz über Schuluniformen, die hier sowieso nie jemand ernsthaft einführen würde, bieten aktuelle Themen wie Klimawandel und soziale Medien einen unendlichen Fundus an kontroversen Themen, über die es sich zu diskutieren lohnt. Man muss dafür in den Dialog mit den Schüler*innen treten und deren Interessen ernst nehmen und in den Unterricht integrieren.

Texte der Zeit
Wenn es um die Analyse von Texten geht, müssen wir für einen zeitgemäßen Unterricht unser Verständnis davon, was ein „Text“ ist, auf zahlreiche Medien neben Buch und Zeitung erweitern. Podcasts, Videospiele, Filme, Serien, YouTube-Videos, Instagram-Reels, TikToks sind allesamt Texte, mit denen Schüler*innen in ihrem Alltag in der Regel häufiger konfrontiert werden als mit Zeit-Artikeln, Novellen und Gedichten. All diese Texte haben ihre Berechtigung und funktionieren nach einigen Spielregeln. Außerdem enstehen täglich neue Textformen mit neuen Regeln. Daher darf das Ziel nicht sein, möglichst viele Merkmalskataloge auswendig zu lernen, sondern zu lernen, über die Konstruiertheit von Texten aller Art nachzudenken.
In der Textauswahl darf Popkultur nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Schule sieht sich selbst oft als ein Ort, wo Schüler*innen diejenigen Medien vorgeführt werden sollen, die ihnen in ihrem Alltag kaum begegnen – womit meist hochkultureller Literaturkanon der letzten zwei Jahrhunderte gemeint ist. Dabei gehört es auch zur Mündigkeit eines modernen Menschen, eine pop literacy zu entwickeln. [1] Fragen nach Kommerzialisierung und Einfluss der Militär-Lobby stellen sich bei Den Leiden des Jungen Werther kaum, bei jedem neuen Marvel-Film sieht das allerdings ganz anders aus. Manchmal kann es auch von Vorteil sein, wenn Schüler*innen neue Analysetechniken an vertrauten Texten einüben anstatt mit den Schwierigkeiten von Goethes fremdartiger Sprache und den Anforderungen einer Dramenanalyse gleichzeitig konfrontiert zu sein.
Popkultur muss (und sollte) im Unterricht jedoch nicht nur zur kritischen Analyse herangezogen werden; sie bietet auch offensichtliche Anknüpfungspunkte für handlungs- und produktionsorientierten Unterricht: Fanfiction stellt eine reale Textform kreativen Schreibens dar, die es sich zu behandeln lohnen kann. Im Fanfiction-Archiv archiveofourown.org finden sich zum Marvel Cinematic Universe 467 099 Werke, während der Werther nur auf 8 kommt. Ob man im Unterricht nun an die erste Gruppe anknüpfen möchte oder lieber die Werther-Sammlung erweitert, ist sicherlich abhängig der individuellen Klasse. Auf jeden Fall kann man darüber nachdenken, ob man den klassischen Tagebucheintrag aus der Sicht des Protagonisten nicht einmal mit anderen Ideen aus der Welt der Fanfiction ersetzen kann.

Sprachwandel statt konservativer Präskriptivismus
Zeitgemäßer Deutschunterricht beschäftigt sich auch mit aktuellen Sprachwandelerscheinungen und Diskursen über Sprache.
Hierzu gehört einerseits die Reflexion über die Bedeutung von Sprache im Zusammenhang mit Themen wie Gendern, der Verwendung von inklusiver Sprache und Barrierefreiheit durch leichte Sprache. Schüler*innen werden dazu eingeladen, über ihren eigenen Sprachgebrauch nachzudenken und eine eigene Position im Diskurs über den Einfluss von Sprache im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit zu finden.
Andererseits müssen wir als Lehrkräfte überlegen, ob sprachliche Korrektheit unser zentrales Bewertungskriterium für Texte von Schüler*innen sein soll. Wollen wir nicht lieber bei den Schüler*innen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sprachliche Regeln sich verändern und mit ihnen erforschen, wo diese Veränderungen aktuell auftreten? Die Duden-Grammatik muss nicht die einzige Referenz sein; auch Absprachen innerhalb der Klasse können Regeln für einen gemeinsamen Sprachgebrauch darstellen, auf den sich innerhalb der Gruppe geeinigt wird. Fest etablierte Sprachwandelerscheinungen können auch so in Schüler*innentexten verwendet werden, selbst wenn sie (noch) nicht in offiziellen Grammatiken stehen. Sprachliche Vielfalt kann ebenfalls bewusst als Stilmittel eingesetzt werden und ein offener Umgang mit freierer Sprachverwendung kann Schüler*innen in ihren eigenen Texten zu kreativem Spiel mit Sprache einladen. Generell sollte sich die Vielfältigkeit von Sprache in einem zeitgemäßen Unterricht widerspiegeln und die Schüler*innen zur kritischen Reflexion über Sprachebenen, -register, -regeln und verwandten Themenkomplexen anregen.

Zeitgemäßer Unterricht wird der Vielfalt der Welt gerecht.
– Vielfalt in den Lebenswelten der Schüler*innen
– Vielfalt in realen Textsorten
– Vielfalt der Sprache

[1] Vgl. Brabazon, Tara (2006): Thinking pop literacies, or why John Howard should read more. The Australian library journal 55 (4), S. 285-300.

Über den Autor

Ich studiere Gymnasiallehramt für die Fächer Deutsch, Latein und katholische Religionslehre.

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